Montag, 2. Mai 2016
gut.
Bin immer noch da.

Die Sonne scheint draußen. Es ist warm, nicht mehr so nasskalt. Das Wetter verursacht ein ekelhaft schlechtes Gewissen.
Wie kann ich bei diesem wunderschönen Wetter nur in meiner Wohnung hocken?

Ich halte mich am Leben.

Im Moment darf ich nicht nachdenken. Sonst hält mich alles fest. Ich brauche alle Kraft, die ich habe, um nicht an das zu denken, was mich fertig macht.
Das Problem ist, dass ich dabei dann vollkommen von dem konsumiert werde und bin, was mich ablenkt.

Ich lese ein tolles Buch. Den ganzen Vormittag lang. Ich spiele mit meinem Hund, immer mal zwischendurch.
Ich spiele Computerspiele, stundenlang.
Wenn ich draußen bin, fange ich an, nachzudenken.

Was nicht heisst, dass ich nicht nach draußen gehe. Mein Hund braucht seinen Auslauf, und den bekommt er auch.

Aber die meiste Zeit des Tages versuche ich, nicht an den Rand des Abgrundes zu treten. Ich baue Mauern zwischen ihm und mir auf.
Mauern aus Büchern, aus hübschen Dingen. Ich liebe schöne Kleider und Schmuck. Manchmal nähe ich selbst. Das kommt alles zwischen mich und den Abrgund.

Ich verkleide mich gerne. Das hat nichts damit zu tun, dass ich jemand anderes sein will und vor meiner Identität davon laufe. Eher, dass es mich stark macht, wenn ich sehe, dass auch ich schön sein kann.
Ich setze eine Perücke auf, keine hässliche Faschingsperücke mit verfilzten Plastiksträhnen, eine gute aus Kanekalon-Faser. Ein schönes Kleid und viele Perlen. Glitzer.
Make-Up, viel mehr und viel sorgfältiger aufgetragen als sonst. Im Alltag trage ich oft einfach gar keins mehr. Wozu auch. Ich gehe ja nirgends hin, und zuhause stört es mich nur.

Manchmal stelle ich mir vor, dass ich wirklich eine Prinzessin bin, die nur in ihrem Turm liegt und böse Träume träumt.
Wenn ich sterbe, wache ich dann auf?

Aber im Moment sterbe ich nicht. Ich bekämpfe virtuelle Monster am Computer, trage schöne Kleider, lese spannende Bücher von anderen Welten und anderen Problemen.

Wieviel lieber würde ich mit dem Schwert in der Hand einem dreiköpfigen Krokodil entgegen treten als...

Ich liebe gutes Essen. Man sollte meinen, ich wäre viel dicker, als ich bin, aber es hält sich in Grenzen. Ich lebe auch nicht ungesund, im Großen und Ganzen.
Aber nichts hilft besser in einem richtigen Tief als eine Portion Eis mit Streuseln oder eine Runde richtig gutes Sushi.
Oder eine Shoppingtour. Was ich mir natürlich eher selten leisten kann.

Meine Freundin ist Fotografin. Sie kann mich so fotografieren, dass ich hübsch aussehe - sogar ohne Retusche.

Ich kann Mauern bauen. Dadurch verschwindet diese Kante nicht. Der Rand vom Abgrund. Das Netz aus feinen, schwarzen Fäden, das von dem großen Klumpen in meiner Brust gesteuert wird.
Aber die Mauern retten mich, Sie halten mich auf, wenn ich auf den Rand zu laufe. Ich kann mich daran festhalten, wenn ich dorthin gezogen werde.

Ich türme weiter Bücher auf, Kleider, Schmuck, Eisbecher, Ideen, Pläne, Dinge, die ich mit meinen besten Freunden noch machen will, mein Hund sitzt ganz oben auf der bunten Mauer.

Es hilft. Es geht.

Noch.

Ich lebe noch.

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