Samstag, 14. Mai 2016
schwer.
Der Satz, der mir immer wieder in den Sinn kommt, ist: "Ich hasse mein Leben."

Ich hasse eigentlich nicht alles davon. Ich habe eine Freundin, die ich sehr lieb habe, und meine Großmutter, und noch eine andere Freundin, und meinen Hund. Durch meinen Hund und meine beiden Freundinnen habe ich Ablenkungen und Zeiten, in denen ich nicht viel über den Rest nachdenken muss.

Ich mag es, sinnlos irgendwelche Serien anzuschauen, die spannend sind, dabei muss ich nicht nachdenken. Oder beim Zocken am PC.
Wenn ich mit Freundin und Hund im Wald bin, unterhalten wir uns und ich muss auf den Schnuffel achten, da bin ich auch abgelenkt.
Essen ist auch super dafür. (Zum Glück mache ich wenigstens ein bisschen Sport, sonst wäre ich bestimmt sehr dick.)

Wenn ich Aussicht auf einen schönen Tag habe, habe ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich habe sofort das Gefühl, ich verdiene es nicht, mich gut zu fühlen. Ich verdiene keine schöne Zeit, keinen Spaß, keine Freude.

Was mache ich schon, was leiste ich? Nichts. Ich schaffe es im Moment nicht einmal, Bewerbungen zu schreiben. Ich müsste unbedingt. Ich brauche einen Job, so schnell wie möglich.
Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen kann.
Bei der Vorstellung, jeden Tag wieder unter so vielen Menschen zu sein, bekomme ich Angst. Mein Herz schlägt schneller und ich bekomme Schweißausbrüche.
Ich habe schon gearbeitet, im Service zum Beispiel. Es war anstregend, so anstrengend... Ich brauchte immer alle freie Zeit um mich nur davon zu erholen. Kein Raum für etwas anderes mehr.
In meinem Kopf sind nur die geschehenen Dinge bei der Arbeit und alles, was ich möglicherweise falsch gemacht habe, wobei ich mich blamiert habe, was sie jetzt wohl von mir denken...
Und dann, wenn ich damit durch bin, kommt die Angst vor der nächsten Schicht. Werde ich alle Aufgaben erledigen können? Alle Fragen beantworten? Alles richtig machen? Was, wenn nicht?
Ich habe immer gute Arbeitszeugnisse bekommen, von Praktika, von Nebenjobs. Ich war nie eine schlechte Mitarbeiterin, wenn man dem Glauben schenken kann.
Trotzdem diese Angst. Immer.

Bei dem Gedanken, wieder so leben zu müssen, kommt sie wieder, stärker als vorher.

Zuhause sein kann ich auch nicht. Es zerfrisst mich. Trotz langer Spaziergänge im Wald, trotz Sport. Der Gedanke, so nutzlos zu sein...
Ich bin eine Platzverschwendung. Ich wünschte, ich würde sterben.
Aber um mich selbst umzubringen, habe ich schon seit Jahren zuviel Angst.
Ohne mich wäre es besser. Sie müssten die Verantwortung für mich nicht mehr tragen, nicht mehr für mich mit bezahlen, sich mein Gejammer nicht mehr anhören.

Sie wären frei von mir.

Wie soll meine Zukunft aussehen? Ich werde immer nur am Existenzminimum leben. Gerade so die Miete zusammenkratzen. Nie die Welt sehen.
Ich würde so gerne reisen... fremde Länder sehen, andere Kulturen kennen lernen...
Irgendwann mal in einem kleinen Haus am Waldrand leben, meinen kleinen Buchladen in der Stadt haben... Meine eigenen Bücher an einem Schreibtisch neben einem großen Fenster schreiben, durch das die Sonne scheint.
Das wird nie passieren. Mit einem Teilzeitjob, den ich wahrscheinlich nicht einmal schaffe zu machen, wird das nie finanzierbar sein.

Und diese Angst wird mich auch niemals loslassen.

Die Blicke anderer Menschen sind für mich wie Nadeln, die mich stechen.
In mir drin ist der schwarze Klumpen, der mich mit seinen Fäden zusammenzieht und festhält. Ich kann mich nicht wehren.
Es war nie anders. Wie soll es jemals anders sein?

Wie habe ich überhaupt so lange durchgehalten...

Ich habe einen Artikel gelesen, dass in Belgien nun Sterbehilfe auch für Menschen mit psychischen Krankheiten erlaubt wird.
Eine Frau, die interviewt wurde, sagte, dass das Leben eben einfach nichts für sie sei.
So kommt es mir auch vor.

Ich bin hier falsch. Ich bin falsch. Ich bin irgendwo falsch abgebogen und hier gelandet. Ich gehöre hier nicht hin.
Anscheinend kann ich nicht so sein wie all die anderen. Ich würde es gerne. Es sieht so leicht aus. Sie sagen, jeder hat sein Päckchen, und man muss eben damit klar kommen.
Ich schaffe das aber nicht. Es ist so schwer, es erdrückt mich. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Das Leben ist schwer. So schwer.

Früher habe ich mir immer den Tag vor meinem 30. Geburtstag als Deadline gesetzt.
"Bis ich 30 bin, bin ich tot." habe ich immer gesagt. Sie fanden das alle ziemlich lustig, haben gelacht. Dachten, ich mache Scherze.
Das war kein Schwerz. Ich habe noch drei Jahre. Wenn ich es bis dahin nicht schaffe, dem Leben etwas abzugewinnen, bin ich nicht mehr stark genug, es länger zu tragen.
Vielleicht ist es auch schon früher so weit.

Ich will eigentlich nicht sterben. Ich male mir so viel schönes aus. Ich stelle mir vor, was ich alles tun könnte.
Wenn ich ein bisschen mehr Geld hätte, die Schmerzen aufhören würden und der schwarze Klumpen weg wäre.
Ich würde so viel tun. Es wäre so schön. Aber ich weiß nicht, wie ich dahin kommen kann.

Ich sehe den Weg nicht. Für mich ist es nicht leicht. Alles zieht und zerrt an mir, zerbricht und zerreisst mich.

Ich will nicht faul sein. Wirklich nicht. Aber ich weiß nicht, wie ich einen normalen Arbeitsalltag durchstehen soll.
Ich habe es versucht. Jahrelang. Immer wieder. Immer wieder versagt.

Was mache ich falsch. Warum fällt mir so schwer, was für andere so selbstverständlich ist?
Wie können sie so sorglos sein...

Ich wäre gerne sorglos. Oder hätte nur gerne ein paar Sorgen weniger. Ich will keine Angst mehr haben.

An Tagen wie heute sehe ich keine Sonnenstrahlen.

Ich warte nur darauf, dass sie nach Hause kommt, damit ich nicht mehr alleine bin. Zum Glück ist mein Hund da.

Ich sehe keine Sonnenstrahlen.

Wenn ich sterben würde, wären sie traurig, das haben sie gesagt. Ich glaube, das stimmt wohl, aber das geht vorbei, und im Endeffekt wäre es eine Last weniger, die sie tragen müssten.

Und eine gesellschaftliche Versagerin weniger im Land. Wirtschaftlich auch besser. Nicht, dass mich das besonders interessieren würde - mein Staat hat mich von Anfang an im Stich gelassen.
Als es anfing, dass ich krank war. Als Kind hat es schon keinen von ihnen interessiert, als Pseudo-Erwachsene erst recht nicht. Die sind doch froh über jeden, der sich selbst umbringt und sie dadurch kein Geld mehr kostet.
Von der Gesellschaft, den Ämtern, den Krankenkassen... von ihnen kam nie Hilfe. Meine Mutter war verzweifelt, so viele Briefe und Termine...
Es hat keinen interessiert.
Deswegen werden sie mir jetzt wohl kaum helfen. Oder auch nur Verständnis zeigen. Das wird keiner von dieser Seite.

Ich will nur, dass ds alles aufhört. Am liebsten würde ich einschlafen und nicht mehr aufwachen. So fühlt es sich an. Alles nur schwer, trübe und ekelhaft.

Im Moment habe ich zuviel Angst davor, was die Alternative zum Leben, wie ich es kenne, ist.
Es sind noch knapp drei Jahre, bis ich 30 werde. Zum Kotzen. 27 Jahre und nichts erreicht.
Die Zeit ging an mir vorbei und ich kam nicht mit. Als würden alle um mich herum rennen und ich würde stehen, weil ich nicht weiß, wohin ich rennen soll.
Ich fühle mich, als wäre ich vielleicht 22.
Die Krankheit hat mir so viel weg genommen. So große Teile meines Lebens. Und sie tut es immer noch.
Vielleicht glauben mir Leute ja, dass ich so ein Loser bin, weil ich fünf Jahre lang im Koma lag und den Anschluss verpasst habe? Fünf Jahre? Sieben?
Mein 18. Geburtstag war ein Schock. Von da an war jeder, der darauf folgte, ein noch größerer.
Wie kann es sein, dass es mit der Zeit nicht besser wird?
Ich sollte doch so viele Möglichkeiten haben, wenn ich groß bin... Ich sollte eine schöne Arbeit haben, die mir Spaß macht, selbstständig sein...

Ich bin nicht groß geworden. Ich will es nicht sein. Ich kann es nicht sein.

Ich bin immer noch ein Mädchen, dass den Anschluss verpasst hat und ihn ums Verrecken nicht mehr findet.

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Montag, 9. Mai 2016
besser?
Als ich im Kindergarten war und morgens weinte, weil ich nicht hin wollte, sagte meine Mutter, dass das alles doch gar nicht so schlimm ist und ich schon merken werde, dass eigentlich alles ganz toll ist und mir Spaß machen wird.
Ich hatte Angst vor ein paar der anderen Mädchen, die mich auslachten, wenn ich etwas nicht so konnte wie sie, und vor den Jungs, die mir an den Haaren zogen. Ich hatte Angst vor der Erzieherin, die mich anschrie und in der Ecke stehen ließ, weil ich eine selbstgefaltete Himmel-und-Hölle im Stuhlkreis 'mitsingen' ließ.

Ich schäme mich bis heute für eine Situation in diesem Kindergarten. Die Erzieherin war nicht da, also waren wir ca. zehn Kindr alleine im Raum, glaube ich. Einer der kleinsten, er hieß Benjamin, wurde das Opfer. Eins der älteren Mädchen sagte, dass es lustig wäre, seinen Pimmel anzugucken, und mit ein paar anderen Mädchen hielt sie ihn fest und zog ihm die Hose runter. Dann fassten sie immer wieder seinen Penis an.
Alle Kinder standen um den Kleinen herum und lachten. Ich stand mit dabei. Mir war zum Heulen. Er tat mir so leid. Ich hasste diese Mädchen. Aber ich habe nichts getan. Ich stand da und habe mitgelacht.
Ich schäme mich bis heute dafür. Der arme kleine Benjamin war total wehrlos und ich stand da und tat nichts, gar nichts, um ihm zu helfen. Ich saß danach auf der Kindergartentoilette und habe geweint, glaube ich, aber das half dem Kleinen auch nicht mehr.
Das ist das Erlebnis, an das ich mich aus meiner Kindergartenzeit am deutlichsten erinnere, das, und die Sache mit der Himmel-und-Hölle und meine schreiene Erzieherin.

In Australien war es ein wenig besser, wir waren nur ein Jahr dort, aber eigentlich erinnere ich mich an viel positives. Ich mochte unser Haus und unseren Garten, und meine Katze Sissi, mein erstes Haustier.
Ein Kookaburra besuchte uns ganz oft und fraß Käse, den meine Mutter für ihn auf den Zaun legte.
Außer dem Freund meiner Mutter und meinem Halbbruder, der damals noch sehr klein war, ich war sechs Jahre alt, wohnte in einer Hütte im Garten noch ein langjähriger Freund meiner Familie. Er war Mechaniker und Künstler und baute Skulpturen aus Metall in seiner Freizeit.
Ich machte aus den ganzen Tieren einen 'Blechzoo'. Mit ihm zusammen malte ich unzählige Bilder. Raben. Cartoonisierte Raben waren mein Lieblingsmotiv. Es gab Prinzessinnenraben, Bauarbeiterraben, Arztraben, alles mögliche. Die Bilder waren richtig schlecht, aber er hängte sie trotzdem in seiner Hütte auf. Alle.
Meine Mutter ließ mich Flipper anschauen, ich habe die zwei Filme bestimmt fünfzigmal gesehen. Die alten Flipper-Spielfilme.
Ich fand die Vorstellung großartig, wie Sandy, der Hauptcharakter, zu sein und einen Delphin zu retten, der dann mein bester Freund wurde. Bis heute habe ich zwar keinen Delphin in real gesehen, aber ich hatte ein richtig großes Delphin-Plüschtier, mit dem ich durchs Wohnzimmer schwamm.
Abends spielten wir auf der Terrasse immer Würfelspiele.
Solange ich zuhause war, war eigentlich alles okay. Ich besuchte eine Vorschule, extra für deutschsprachige Kinder. Eigentlich alle dort außer mir wuchsen zweisprachig auf und sprachen fließend Englisch, was klasse für sie war, da sie so reden konnten, ohne dass ich sie verstand. Gerne auch mal ganz deutlich über mich. Wer brauchte schon eine Geheimsprache...
Trotzdem ging es dort eigentlich. Ich sammelte mit eine anderen Mädchen zusammen Schnecken, das waren unsere Haustiere. Ich konnte zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen lesen, ich weiß noch, wie ich das Wort 'Ente' vorlesen konnte, das an der Tafel stand.
Die Räume waren auf Stelzen gebaut, ich weiß nicht, vielleicht wegen Termiten. Sie waren also alle ein Stück über dem Boden, wenn man wollte, konnte man auf allen Vieren darunter herumkrabbeln.
Eine der Erzieherinnen sprach einmal uns gegenüber vom 'Erdboden' und meinte damit den Fußboden. Verwirrt widersprach ich ihr, dass das nicht der Erdboden sei, sondern nur Bretter mit Teppich. Sie flippte daraufhin total aus, schrie mich vor der ganzen Gruppe an und sagte, ich sei eine unerträgliche Besserwisserin und dass das sie schon die ganze Zeit nerven würde.
Danach habe ich mich nicht mehr getraut, etwas zu sagen oder zu machen, was auffiel. Vielleicht war ich eben einfach kein angenehmes Kind.
Aber im Großen und Ganzen war die Zeit in Australien schön, solange ich nicht in diese Vorschule musste. Ich habe mal ein Bild gesehen aus dieser Zeit, ein Klassenfoto. Ich sah furchtbar aus, verzottelte, nach allen Seiten abstehende weißblonde Haare und ein verwaschenes pinkes T-Shirt, das wahrscheinlich meiner Mutter zu groß gewesen wäre, denn es ging mir bis über die Knie.
Alle anderen Kinder hatten normale Shirts in ihrer Größe und Hosen, ich hatte darunter eine abgeschnittene Leggins. Naja, aber das fiel mir damals eigentlich nicht auf, muss ich sagen, hat mich nicht gestört. Das Zeug wurde beim Spielen sowieso dreckig.
Nach einem Jahr hatte ich Heimweh nach meiner Oma. Sie konnte uns nicht besuchen, weil sie Flugangst hatte.

Meine Mutter brachte mich nach Hause, nach Deutschland. In dieser Zeit brach sich mein kleiner Bruder das Handgelenk, weil er vom Tisch fiel. Der Freund meiner Mutter, sein Vater, hatte nicht richtig aufgepasst. Im Krankenhaus bauten die Ärzte richtig viel Mist. Sein Handgelenk wuchs falsch zusammen, er musste über die Jahre immer wieder operiert werden und komische Schienen tragen, hatte Ergotherapie und richtige Schmerzen. Heute ist er dreiundzwanzig und der Mist ist endlich größtenteils verheilt. Er hat nur noch eine richtig fette Narbe am Arm.

Meine Mutter blieb mit meinem Bruder noch eine Weile in Australien. Ich lebte in dieser Zeit bei meiner Oma, und kam dann auch in die Schule.

Das Drama begann.

Es hieß, dass ich 'nächste Woche' in die Schule kommen sollte. Ich hatte wegen der ganzen Australien-Sache das erste Halbjahr verpasst und sollte zum zweiten Halbjahr in die Klasse kommen, da ich sonst noch länger warten müsste und dann die Älteste in der nächsten Klasse wäre. Ich glaube zumindest, dass das der Grund war.
Zwei Tage später hieß es 'Morgen ist dein erster Schultag'. Ich, die 'nächste Woche' mit 'in einer Woche' verwechselt hatte, war vollkommen schockiert und bekam einen totalen Heulkrampf. Ich weinte und schrie und wollte nicht dorthin, aber es half alles nichts, ich musste natürlich.

Alles wird gut, sagte meine Oma. Die Schule würde schon nicht so schlimm sein, und ich würde eine Schultüte bekommen, wenn ich vom ersten Tag heimkäme. Bekam ich auch. Jede Menge Süßigkeiten und eine Indianer-Puppe mit Pferd! Ich liebte Pferde, schon immer.
Ich muss ein anstrengendes Kind gewesen sein. Meine Großeltern sind liebe Menschen. Aber ich denke, sie waren überfordert. Ich hatte schon vor der Schule ein bisschen lesen und rechnen können, aber ich verstand viele der Aufgaben nicht, die sie uns stellten.
Meine Lehrerin war frisch aus dem Studium, wir waren ihre allererste eigene Klasse. Sie verstand oft nicht, wie manche Kinder ihre Erklärungen nicht verstehen konnten.
Es dauerte, bis ich richtig lesen konnte, beziehungsweise bis ich die dämlichen Arbeitsblätter ausfüllen konnte, wo e und u mit einem Bogen verbunden waren, damit wir lernten, es 'eu' auszusprechen.
Ich hatte oft Wutanfälle, glaube ich. Meine Oma wurde dann auch immer wütend, zumindest erinnere ich mich so.
Sie sagte immer, ich müsste all das lernen, denn später sei es wichtig. Stimmte ja auch. Half mir nur nicht.
Sobald ich einmal richtig lesen konnte und verstanden hatte, was die Lehrerin in ihren Arbeitsblättern von mir wollte, war das Fach Deutsch allerdings kein Problem mehr. Nie wieder.
Doch dann kam Mathematik. Damit war es vorbei. Das Thema Schule. Meine Oma erzählt mir heute noch gerne, wie toll ich vor der Schule rechnen und zählen konnte, mit Steinchen und Fingern und Blütenblättern.
In der Schule wurde mir verboten, die Finger zum Abzählen zu benutzen. Ich durfte keine Steinchen nehmen. Es gab einen komischen Kasten mit Holzklötzchen und Stäbchen, und mit dem sollten wir rechnen.
Ich kam damit nicht klar. Ich verstand es nicht. Vielleicht war ich einfach zu blöd. Zumindest sagte das mal eins der anderen Kinder. Ich hasste diesen Rechenkasten.
Meine Oma verbrachte Stunden damit, mit mir meine Rechenhausaufgaben zu machen.
In der zweiten Klasse oder so kam der erste Mathetest. Ich hatte geübt dafür. Ewig lange. Trotzdem verstand ich schlichtweg gar nichts, was da vor mir auf dem Papier verlangt wurde.
Ich brach mitten Im Test in Tränen aus, weil ich Panik bekam und mich so schämte. Ich erinnere mich noch gut an diese Situation. Die Lehrerin kam zu mir, baute sich vor mir auf und sagte laut und sauer: "Ja sagmal! Ich habe doch gesagt, ihr sollt zu mir kommen, wenn ihr etwas nicht versteht! Was soll das denn jetzt?!" Ich heulte nur weiter. Sie ging dann vor mir in die Hocke und fragte zischend, was ich denn nicht verstünde. 'Gar nichts' war offensichtlich nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen.
Von da an war die Mathematik für mich gelaufen. Ich bekam Panik, wenn ich Zahlen sah, die täglichen Mathestunden in der Schule waren eine Qual.
Irgendwann, als ich siebzehn war, kam heraus, dass ich Dyskalkulie habe. Nicht, dass darauf Rücksicht genommen worden wäre wie auf Kinder mit LRS, aber es war immerhin eine Erklärung.

So richtige Freunde fand ich in meiner Grundschulzeit nicht. Sicher gab es mal ein paar, mit denen ich nach der Schule etwas unternahm, aber nichts hielt besonders lange. Ich erinnere mich auch nicht an so viel Freizeitmäßiges aus der Zeit, außer, dass ich mit acht Jahren mit Reiten anfing. Weil meine Mutter nicht so viel Geld hatte, war das keine so schicke Sache mit weißen Reithosen, geschniegelten Pferdchen, die schon aufgesattelt auf die Kinder warten und sowas. Ich kam auf eine Art Tierhof, auf dem wir erstmal zwei Stunden Mist schaufelten, bis wir reiten durften.
Aber das war eigentlich okay, ich war ziemlich happy dort. Im nachhinein sehe ich viel, was nicht okay war und nichts kindsgerecht, unter Anderem wurde die Leiterin des Ganzen später wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Sie hatte Pflegekinder, die ziemlich unter ihr zu leiden hatten - billige Arbeitskräfte eben. Wir Kinder, deren Eltern dafür bezahlten, dass wir dort reiten lernten, waren auch eine tolle Sache für sie, der ganze Stall wurde gesäubert, und sie musste uns nur auf ein paar Ponies setzen und uns die Grundlagen zeigen.
Ich war trotzdem begeistert. Ich liebte die Pferde und Ponies dort, die Ziegen und die Hunde. Und ich lernte Reiten. Vielleicht sogar besser als so mancher in einer Schicki-Micki-Reitschule.
Ich machte nie das kleine oder große Hufeisen, nahm nie an Turnieren teil. Wir ritten durch die Pampa, durch den Wald, die Berge, über Felder, ich fiel in den Matsch und lernte, ohne Sattel zu reiten. War cool.
Irgendwann ging der Stall pleite.
Meine Tante hatte eigene Pferde, und ich durfte dort weiter reiten, das war ansich ziemlich super, nur, dass meine Tante ein sehr spezieller Mensch war/ist, mit dem man einfach nicht gut auskommt, wenn man kein perfekter Workaholic ist. Aber das ist nicht so wichtig.

Irgendwie überlebte ich die Grundschule. Ich habe wenige schöne Erinnerungen daran. Eine der schlimmsten war irgendwann in der dritten Klasse, glaube ich.
Es ging um ein Mädchen, Isabel, die mit zwei anderen zu einer frühen Version des Zicken-Trios gehörte. Natalie und Michaela hießen die anderen beiden, glaube ich. Das waren die ersten, die Labello benutzten und Schuhe mit dicken Sohlen anzogen. Manchmal konnte man ganz gut mit ihnen spielen, aber meistens waren sie ein bisschen gemein und hochnäsig.
Ich saß mal mit einem der Jungs im Schulbus, der nicht so gemein war wie die anderen Jungs, er hieß Patrick. Wir waren eine Zeitlang sogar recht gut befreundet, aber nach der Grundschule hatten wir keinen Kontakt mehr, zumindest keinen festen.
Im selben Jahr, in dem ich erfuhr, dass mein Vater tot war, bekam ich die Nachricht, dass Patrick bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war.
Auf jeden Fall saßen Patrick und ich im Bus und unterhielten uns über das, was Grundschüler eben so reden.
Irgendwann kam die Frage auf, wie wir denn Isabel fänden. Er sagte, er fände sie 'irgendwie dumm', und weil ich das eigentlich im Großen und Ganzen dachte, sagte ich: "Ja, ich auch."
Damit war das Thema gegessen und wir redeten über anderen Quatsch. Blöde Sache, dass das wohl jemand mitbekommen hatte.
Am nächsten Tag kamen Patrick und ich in der Schule an und wurden sofort von unserer Lehrerin - die ich übrigens sehr gerne mochte, was ich heute nicht mehr nachvollziehen kann - aus der Klasse genommen und in den Flur gebracht.
Ich weiß noch, wir standen mit den Rücken zum Fenster und sie vor uns mit dem Rücken zur Klassenzimmertür.
Was wir uns denn dabei gedacht hätten, so etwas schlimmes zu sagen. Die arme Isabel hätte die ganze Nacht geweint wegen uns. Warum wir nur so etwas tun würden.
Ich schämte mich bereits furchtbar, war mir doch nicht bewusst gewesen, wie schlimm es war, so etwas zu sagen. Da ging hinter der Lehrerin leise die Klassenzimmertür auf und die ganze Klasse stand darin, kichernd und mit den Fingern auf Patrick und mich zeigend. Es musste urkomisch sein, wie wir mal so richtig Ärger bekamen. Ganz vorne stand die arme Isabel übers ganze Gesicht grinsend und uns auslachend.
Als ich die Lehrerin darauf aufmerksam machen wollte, ließ sie mich nicht zu Wort kommen, das spiele jetzt keine Rolle, wir wären diejenigen, die etwas falsch gemacht hätten. Wieder im Klassenzimmer mussten wir uns natürlich bei der armen, traurigen Isabel entschuldigen, die sich ihr fettes Grinsen kaum verkneifen konnte.

Niemals werde ich auf ein Klassentreffen meiner Grundschulklasse gehen, außer, um ihnen zu sagen, wie sehr ich sie alle nicht leiden kann.

Ich überlebte die Grundschule, es passierten sicher auch nette Dinge. Mathe gehörte nicht dazu. Ich hatte eine 3 im Zeugnis, was ja in dem Alter ein ziemliches Drama ist.
Meine Oma war Schulleiterin an einer Schule zwei Dörfer weiter, und der Schulleiter meiner Schule mochte sie nicht besonders, zumindest habe ich das später erfahren.
Dank meiner Panik vor Mathe konnte ich im Unterricht manchmal nicht gut mitarbeiten. Deswegen bekam ich keine Empfehlung für das Gymnasium, sondern für die Realschule.
Weil meine Mutter sich nicht damit abfinden wollte, dass ich nicht die Möglichkeit bekam, das Abitur zu machen, ist ja schon nicht leicht, von der Realschule aufs Gymnasium zu wechseln, auch wenn es natürlich theoretisch funktioniert, kam ich auf eine Gesamtschule.

Das Drama ging weiter.

Aus der Zeit an dieser Schule habe ich NICHTS positives zu berichten. Es war die Hölle. Ich, im Dorf aufgewachsen, war jetzt in der Stadt. Die Kinder hier waren nochmal was anderes.
Plötzlich gingen normale Jeans und Pullis nicht mehr. Wer keine Schlaghosen und engen Tops trug, war scheiße. Wer kein Nokia 5110 hatte, war scheiße. Wer nicht dünn war, war scheiße. Wer eine Brille trug, war scheiße. Wer sich gut mit den Lehrern verstand, war besonders scheiße. Also war ich einfach grundsätzlich scheiße. Von Anfang an. Und dann bekam ich trotz Heulen und Betteln Brackets, diese hässlichsten aller hässlichen Zahnspangen. Bei den coolen Kids waren die cool, aber bei jemandem wie mir waren sie natürlich - na? Jap, scheiße.
Ich war nie so richtig dick, aber eben pummelig. Meine Mutter hatte nie viel Zeit zum Kochen, daher gab es oft zum Abendessen Nudeln oder Pizza. Und natürlich frisst jemand, der nicht wirklich glücklich ist, gerne mal jede Menge Süßkram.
Ich war im Kindergarten schon so. Hamsterbacke, Mondgesicht. In meiner Familie liegt eine ziemlich runde Gesichtsform. Dazu dann das Pummelige... persönliches Pech.
Aber im Ernst, sie hätten was anderes gefunden, und wenn ich ausgesehen hätte wie Scarlett Johansson.
Ich entwickelte spät Interesse an Make-Up und hübschen Kleidern. Als meine Brüste wuchsen, fand ich das erstmal eklig und nervig, weil es beim Laufen weh tat, wenn sie hüpften. Ich hatte ziemlich schnell recht große und mochte das eigentlich nicht so sehr, fand mich dann aber damit ab. Inzwischen finde ich es ganz gut.
Ich habe wahnsinnig viel gelesen. Bücher waren meine besten Freunde. Harry Potter, Die schwarze Stadt, Der Brief für den König, Der Herr der Ringe, so viel. Ich verbrachte meine Nachmittage damit, auf meinem Bett zu liegen und zu lesen.
Meine Mutter arbeitete und kam erst spät Nachmittags heim, deswegen machte ich mir meistens selbst Mittagsessen.
Ich habe keine Lust, alle Zwischenfälle aus der Schule aufzuzählen... Gläser aus der Brille geschlagen, schon gelacht, wenn ich im Unterricht nur den Mund aufmachte, um eine Frage zu beantworten, ... Die Lehrer bekamen das schon mit, aber sagten eigentlich nie was dazu.
Da ging es dann eigentlich richtig los... alle sagten es.

"Es wird besser" "Nur durchhalten" "Ignorier sie, dann finden sie es langweilig und hören auf"

LÜGE!

EINFACH! NUR! GELOGEN!

Es wurde nicht besser. Ich hielt durch. Ich ignorierte sie. Es wurde nicht besser. In der siebten Klasse, Mittelstufe, konnte ich nich durch einen gang in der Schule gehen, ohne Beleidgungen hinterher gerufen zu bekommen.
Es gab keine Bänke, deswegen saßen alle immer am Rand der Gänge auf dem Boden. Man musste mitten durch, wie durch ein Spalier.
"Da kommt wieder die Hässliche" war noch so mit das Netteste.
Ich war nie jemand, der darüber schwieg. Ich erzählte es. Den Lehrern, meiner Mutter, meiner Oma.

"Ignorier es", "Tu so, als ob du sie nicht hörst"

Ich war nichtmal gut im Unterricht. Durchschnitt mit einer krassen Schwäche in Mathe und einer Stärke in Deutsch. Das ganze Lesen brachte mir immerhin, dass ich nie für Deutsch lernen musste.
Aber Mathe wurde ja nicht leichter. In der achten Klasse war ich erstmals deswegen versetzungefährdet. Ich hatte Angst, auf Fragen zu antworten, weil sowieso alle "FALSCH" brüllten, egal was ich sagte. Den Lehrern war das, glaube ich, egal. Ich wurde nicht verprügelt, dafür hatten sie alle zu viel Schiss vor den Folgen. Wahrscheinlich wussten sie, dass ich es erzählen würde. Tat ich ja auch so. Nur brachte es nichts, deswegen machten sie weiter. Ich begann mit Schwänzen.
Kam früher heim und erzählte, dass der Unterricht ausgefallen war. Als deswegen mal ein Brief nach Hause kam, rastete meine Mutter aus.
Tat sie sowieso oft. Ich will es nicht verharmlosen; meine Mutter war zu dieser Zeit Alkoholikerin. Sie hatte einen Freund, der bei uns wohnte, ein anderer als der Vater meines Bruders. Der war irgendwann weg, dann kam noch einer, den sie heiratete, ich glaube, sie mochten sich auch wirklich. Tranken Abends immer zusammen Schnaps und Wein. Manchmal wurde ich wach vom Streiten. Es war nicht so schlimm wie in irgendwelchen Dokus über misshandelte Kinder.
Meine Mutter war einfach überfordert als Alleinerziehende mit zwei Kinder, eins davon (ich) auch noch echt schwer im Umgang. Ich dachte mit zwölf oder so zum ersten Mal darüber nach, wie es wäre, wenn ich sterben würde.
Ich schrieb mal einen Aufsatz in der Schule darüber, dass ich eigentlich keine Freude am Leben hätte und es nicht schlecht fände, bald zu sterben, damit endlich alles vorbei wäre.
Der Lehrer gab ihn mir mit dem Vermerk 'ganz gut geschrieben' zurück.
Meine Mutter sagte immer nur wieder das selbe...
"Ignorier es, wenn sie was sagen" "Ich wurde auch gemobbt, als ich so alt war wie du" "Du musst durchhalten, wenn du erstmal Abi hast, kannst du machen, was du willst" "Tu doch mal was für die Schule anstatt immer zu lesen"
Ich war nicht gut im Lernen. Ich tat mich schwer damit, Dinge zu lernen, von denen ich wusste, dass ich sie danach nie wieder brauchen würde. Naja, ich vermutete es zu dem Zeitpunkt zumindest, und vieles hat sich bestätigt.
Es gab schon mal die eine oder andere Ohrfeige zuhause. Meine Wutanfälle waren ja nicht weniger geworden. Meine Mutter schrie mich an, also schrie ich zurück.
Ich weinte nächtelang. Meine Mutter wusste nicht, was sie tun sollte, und als ich nach einer halben Stunde fruchtloser Tröstungsversuche nicht aufhörte, wurde sie wütend. Ich weinte noch mehr.

Klar gab es Phasen, in denen es etwas besser ging. Klar hatte ich auch mal sowas wie Freunde, aber wenn ich es mir mit denen verscherzte, wurden sie ganz schnell wieder zu Mobbern.
Ich kam nicht mit. Ich kam einfach nicht mit. Ich verstand vieles nicht, was die anderen faszinierte. Was war so toll an Horrofilmen? Warum mussten alle die gleichen Klamotten tragen? Warum war es peinlich, zu lesen? Wieso war es cool, zu rauchen? Meine Mutter rauchte, und es roch einfach nur eklig.
Manchmal wollten andere nicht zu mir zu Besuch kommen, weil danach ihre Klamotten nach Rauch rochen.
Ich passte nicht da rein. Ich weiß auch nicht. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht verstand, wie ich mich verhalten sollte, damit sie aufhörten, gemein zu mir zu sein.
Ab und zu versuchte ich, 'coole' Kleidung zu tragen, aber anscheinend war das auch nur wahnsinnig lustig für die Anderen.
Es passierte viel in dieser Zeit. Ich hasste die Schule. Ich hasste die Pausen. Im Unterricht saß ich an meinem Platz und malte auf meinem Block herum. Ich hatte sehr schlechte mündliche Noten, weil ich nie etwas sagte. Hatte es mir abgewöhnt.
Wenn ich eine gute Note bekam, war es zum Lachen für die Anderen, weil ich ja so ein Streber war. Ich sprach gepflegtes Deutsch, kannte Wörter aus den Büchern, die sie nicht kannten - Streber. Wenn ich schlechte Noten bekam, war es nur noch lustiger, weil die Streberin versagt hatte.
Und ich bekam immer öfter schlechte Noten. Meine Mutter fand das nicht so witzig. Ich hatte dreimal die Woche Nachhilfe in Mathematik. Trotzdem nur schlechte Noten, und mit schlecht meine ich 5er und 6er.
"Es wird besser" bekam ich jede Woche zu hören. "Es wird irgendwann besser"
Lüge.
Ich überstand die MIttelstufe und hatte es wirklich in den Gymnasialzweig geschafft, trotz Mathe. Ich kam in eine andere Klasse. Die waren ruhiger. Hier gab es kaum Mobbing. Leider war das zu spät.
Ich war so verschreckt, dass ich Gesprächen meistens auswich, da ich davon ausging, es würde ohnehin nur dazu dienen, mich auf irgendeine Weise lächerlich zu machen. War jemand nett zu mir, dachte ich, er würde mich verspotten. Das hält bis heute an. Komplimente halte ich meistens für Scherze oder Ironie.
Mathematik brach mir das Genick. Der Lehrer, den wir hatten, übernahm die Aufgabe der Mitschüler, die ich nun endlich losgeworden war und begann, mich in seinem Unterricht zu mobben. Wer kein Mathe konnte, war dumm. Also war ich dumm.
Vor Jahren hatte ich schon angefangen, mich zu schneiden, mich mit scharfen Gegenständen an den Armen zu verletzen.
Eine Klassenkameradin fand das heraus und versuchte tatsächlich, mir zu helfen. Es war nur leider zu spät, glaube ich. Sie hieß Katarina. Der Versuch war wirklich nett, aber es brachte nichts.

Ich brach in der elften Klasse die Schule ab. Ich hatte Angst, hinzugehen. Fuhr manchmal morgens mit der Bahn los und drehte auf halbem Wege um.
Die schlechten Noten in Mathe und Physik machten meine sehr guten in den restlichen Fächern wirkungslos.
Ich gab auf.
Es war nicht besser geworden. Für das, was besser wurde, wurde etwas anderes schlimmer.

Als ich meiner Mutter irgendwann die Verletzungen am Arm zeigte, brach sie zusammen und ich verbrachte den Abend damit, sie zu beruhigen und ihr zu versichern, dass ich mich nicht umbringen wollte, während ihr Freund/Mann planlos daneben stand.

Ich wanderte von Arzt zu Arzt, um alles Körperliche auszuschließen, bevor ich wegen meiner Probleme in Psychotherapie kam.
Der Schulabbruch kam trotzdem. Ich kam in eine Klinik. Drei Monate stationär.
Es machte nichts besser.

Es gab Dinge, die mir halfen. Bücher. Ich hatte Comics entdeckt und das Internet. Hatte begonnen, FanFictions zu schreiben. Hatte sogar Freunde.

Die Diagnose lautete Depression, schwer, mit Sozialer Phobie und leichter Esstörung. Mag nicht weiter darauf eingehen.

Immer wieder dachte ich daran, wie ich mich am Schmerzlosesten umbringen könnte, aber ich hatte zuviel Angst, um es zu tun.
So geht es mir bis heute. Ich habe einfach zu viel Angst und ein schlechtes Gewissen zwei Menschen und einem Hund gegenüber.

Nach der Klinik wurde es richtig schlimm. Ich saß zuhause. Noch nicht achtzehn. Tat nichts. Versuchte drei mal, neu mit der Schule anzufangen. Versagte.
Therapie.

"Irgendwann wird es besser, du wirst sehen!"
Lüge.

Dann war ich achtzehn. Zog aus, da meine Mutter und ich uns nur noch bekriegten. Sie finanzierte es. Irgendwie.
Ich lernte ein Mädchen auf einer Convention kennen. Wir wurden beste Freunde. Ich glaube, sie hat mich gerettet zu dieser Zeit. Irgendwann zogen wir zusammen in eine Pseudo-WG und ich versuchte es nochmal mit der Schule. Es klappte beim zweiten Anlauf, zwar nur eine Fachoberschule für das Fachabitur, aber immerhin.
Ich war Klassenbeste. Ich schaffte sogar Mathematik, der Lehrer war grandios, nie wieder konnte es mir jemand so gut erklären wie er.
Dann zwangen ihre Eltern sie, umzuziehen. Alleine wusste ich, dass ich es nicht schaffte, also zog ich mit und brach die Schule vor dem Abschluss ab.

Wir lebten ein Jahr lang im Haus ihrer Eltern. Es war die Hölle. Eines der schlimmsten Jahre meines Lebens. Es war ein Kaff dort, nichts in der Nähe. Die Schulart, die ich besucht hatte, gab es dort nicht, also konnte ich nicht weiter machen. Es gab nichtmal eine ähnliche.
Ein Jahr verschenkt, in dem ich fast jeden Tag weinte.

Wir zogen um. Ich zog aus. Meine Freundin folgte mir, wir blieben zusammen, und bald ließ sie sich von ihren Eltern nichts mehr sagen. Von da an war sie es, die mir sagte, dass alles besser werden würde.

Wir machten zusammen eine Ausbilung, eine schulische. Mir ihrer Hilfe schaffte ich es. Danach noch ein Jahr für das Fachabitur. Ich schaffte es.
Ich begann eine zweite Ausbildung in einer Bibliothek.

Mein Vater, zu dem ich seit ich elf war keinen Kontakt mehr gehabt hatte, starb an Leberzirrhose in seiner winzigen Wohnung. Sie mussten ihn an seinem Zahnabdruck identifizieren, da es im Sommer war und ihn tagelang niemand fand - sein Körper war von Maden zerfressen und verfault.
Der Mann, der die Wohnung reinigte, erzählte meiner Mutter später, er habe vorher noch nie so etwas heftiges gesehen in seinem Job.

Auf irgendeinem Grund, den ich bis heute nicht verstehe, warf es mich aus der Bahn, in die ich gerade dabei war, hineinzugelangen.
Ich hatte den Mann nicht wirklich gekannt. Nicht geliebt. Er war ein Alkoholiker gewesen, der, als ich ihm sagte, dass ich es nicht mochte, wenn er nach Bier roch, wenn er mich abholte um in den Zoo zu gehen, den Kontakt abbrach.
Ich denke bis heute fast jeden Tag darüber nach.

Ich brach die Ausbildung ab, als mich die Depression wieder fand. Ich schaffte es nicht mehr. Meine Freundin und ich waren inzwischen schon länger ein Paar (Und wenn jetzt jemand 'Lesbe' denkt, wünsche ich, dass ihm ein Lexikon auf den Kopf fällt. Ich bin bi, wenn es schon eine Schublade sein muss. Sie übrigens auch.) und an meiner Ausbildungsstelle fielen immer mal wieder blöde Kommentare darüber. Das trug vielleicht auch dazu bei.
Außerdem musste ich für den Schulteil in ein Internat ein ganzes Stück weit weg. Da hatte ich es wieder, Schule, alleine... kurz, es funktionierte nicht, obwohl ich nicht gemobbt wurde.

"Irgendwann wird es besser"
Gelogen.

Ich arbeitete Teilzeit in einem Kino. Mit den Kollegen kam ich wunderbar zurecht, viele nette Menschen. Es war gar nicht so schlecht. Nur wusste ich einfach immer noch nicht, was ich mit meinem Leben nun anfangen sollte.
Ich fand keinen Weg.

Ich versuchte wieder mal eine Therapie. Klappte nicht. Habe ich erwähnt, dass zu meiner persönlichen Sozialen Phobie die Angst gehört, zu telefonieren?
Ich HASSE telefonieren. Ich kann es nicht. Ich bekomme Panik. Es ist wahnsinnig schwer für mich, nur einen Arzttermin auszumachen.

Da sich in meinem Alter keiner mehr dafür interessiert, ob mir geholfen wird, hing es alles natürlich an mir selbst.

Ich probierte ein Studium. Da ich nur Fachabitur habe, durfte ich nicht Sprach- und Literaturwissenschaften studieren. Das wäre so toll... Ich würde es jetzt noch tun, wenn ich dürfte.
Aber so... probierte ich es mit Informationswesen, weil es hieß, dass man damit später ins Bibliothekswesen kann. Allerdings war das Studium so bescheuert beschrieben, dass ich übersehen haben musste, dass Mathematik ein Teil davon war. Vielleicht war ich auch einfach zu übereifrig. Zu begeistert davon, dass ich jetzt doch studieren konnte. Ich als Studentin! Trotz allem!
Ich war wohl einfach dumm und leichtsinnig.

Ich gab das Studium nach knapp zwei Wochen und drei Panikattacken auf, als mir klar wurde, dass es nicht das Geringste damit zu tun hatte, was ich eigentlich machen wollen würde.

Nur was das war, war eben die Frage.

"Es wird besser"
Immer noch gelogen.

Es wurde nicht besser. Es wurde schlimmer. Ich sitze da und versuche, herauszufinden, was ich tun kann, um alles zu ändern.
Ich will mich ändern und mein Leben ändern.

Ich WILL doch, dass es besser wird. Ich glaube es nur nicht. Ich kann es nicht mehr glauben.

Bestimmt habe ich viel ausgelassen. Nah, nicht nur bestimmt. Das ist nicht meine ganze Lebensgeschichte. Eine Zusammenfassung mit ein paar ausformulierten Stellen maximal.

Ich bin noch hier, auch wenn ich nicht weiß, warum.

Eine große Portion Selbstmitleid? Naja, dafür ist ein Blog auch da, oder nicht. Unter Anderem zumindest.
Ganz viel Selbstmitleid.
Schaut wie ich leiden musste, ich armes, armes Kind.

Ist mir scheißegal.

Ich habe eine Krankheit. Und ja, ich leide darunter. Ich frage mich oft, ob ich einfach nur eine Heulsuse bin, die übertreibt und schlichtweg nur faul ist.
Aber wenn ich anfange, das zu glauben, das wirklich zuzulassen, dann kann ich mir gleich die Kugel geben.

"Es wird besser" ist eine Lüge. Eine gemeine, dreckige, ekelhafte Lüge.

Tut mir leid.




Bitte... ich will, dass mir das Gegenteil bewiesen wird.

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Montag, 2. Mai 2016
gut.
Bin immer noch da.

Die Sonne scheint draußen. Es ist warm, nicht mehr so nasskalt. Das Wetter verursacht ein ekelhaft schlechtes Gewissen.
Wie kann ich bei diesem wunderschönen Wetter nur in meiner Wohnung hocken?

Ich halte mich am Leben.

Im Moment darf ich nicht nachdenken. Sonst hält mich alles fest. Ich brauche alle Kraft, die ich habe, um nicht an das zu denken, was mich fertig macht.
Das Problem ist, dass ich dabei dann vollkommen von dem konsumiert werde und bin, was mich ablenkt.

Ich lese ein tolles Buch. Den ganzen Vormittag lang. Ich spiele mit meinem Hund, immer mal zwischendurch.
Ich spiele Computerspiele, stundenlang.
Wenn ich draußen bin, fange ich an, nachzudenken.

Was nicht heisst, dass ich nicht nach draußen gehe. Mein Hund braucht seinen Auslauf, und den bekommt er auch.

Aber die meiste Zeit des Tages versuche ich, nicht an den Rand des Abgrundes zu treten. Ich baue Mauern zwischen ihm und mir auf.
Mauern aus Büchern, aus hübschen Dingen. Ich liebe schöne Kleider und Schmuck. Manchmal nähe ich selbst. Das kommt alles zwischen mich und den Abrgund.

Ich verkleide mich gerne. Das hat nichts damit zu tun, dass ich jemand anderes sein will und vor meiner Identität davon laufe. Eher, dass es mich stark macht, wenn ich sehe, dass auch ich schön sein kann.
Ich setze eine Perücke auf, keine hässliche Faschingsperücke mit verfilzten Plastiksträhnen, eine gute aus Kanekalon-Faser. Ein schönes Kleid und viele Perlen. Glitzer.
Make-Up, viel mehr und viel sorgfältiger aufgetragen als sonst. Im Alltag trage ich oft einfach gar keins mehr. Wozu auch. Ich gehe ja nirgends hin, und zuhause stört es mich nur.

Manchmal stelle ich mir vor, dass ich wirklich eine Prinzessin bin, die nur in ihrem Turm liegt und böse Träume träumt.
Wenn ich sterbe, wache ich dann auf?

Aber im Moment sterbe ich nicht. Ich bekämpfe virtuelle Monster am Computer, trage schöne Kleider, lese spannende Bücher von anderen Welten und anderen Problemen.

Wieviel lieber würde ich mit dem Schwert in der Hand einem dreiköpfigen Krokodil entgegen treten als...

Ich liebe gutes Essen. Man sollte meinen, ich wäre viel dicker, als ich bin, aber es hält sich in Grenzen. Ich lebe auch nicht ungesund, im Großen und Ganzen.
Aber nichts hilft besser in einem richtigen Tief als eine Portion Eis mit Streuseln oder eine Runde richtig gutes Sushi.
Oder eine Shoppingtour. Was ich mir natürlich eher selten leisten kann.

Meine Freundin ist Fotografin. Sie kann mich so fotografieren, dass ich hübsch aussehe - sogar ohne Retusche.

Ich kann Mauern bauen. Dadurch verschwindet diese Kante nicht. Der Rand vom Abgrund. Das Netz aus feinen, schwarzen Fäden, das von dem großen Klumpen in meiner Brust gesteuert wird.
Aber die Mauern retten mich, Sie halten mich auf, wenn ich auf den Rand zu laufe. Ich kann mich daran festhalten, wenn ich dorthin gezogen werde.

Ich türme weiter Bücher auf, Kleider, Schmuck, Eisbecher, Ideen, Pläne, Dinge, die ich mit meinen besten Freunden noch machen will, mein Hund sitzt ganz oben auf der bunten Mauer.

Es hilft. Es geht.

Noch.

Ich lebe noch.

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